Wenn ich im Netz Videos oder Texte von anderen hoch-funktionalen Autisten sehe oder lese, begegnen mir immer wieder Aussagen wie „Ich nehme alle Gespräche gleich laut wahr“ oder „mir fällt es schwer, Emotionen in meinem Gegenüber zu erkennen“. Oder auch: „Ich vermeide Blickkontakt“.
Ich konnte mich mit solchen Sätzen anfangs nie identifizieren, da diese Aussagen eine gewisse Aufgeklärtheit über das eigene Anderssein voraussetzen. Ich kannte jedoch nur mich, und ich ging davon aus, dass es weitestgehend normal ist, wie ich solche Situationen erlebe. Mir war gar nicht klar, dass es anderen anders gehen könnte.
Klar, ich wusste schon, dass anderen gewisse Dinge leichter fallen – wie sich in sozialen Situationen zu bewegen – ich hielt mich für einen extrovertierten Introvertierten. Aber das es mit einem geringeren sozialen Verständnis zusammenhängen könnte, wusste ich nicht. Oder ich dachte, die vielen Kopfschmerzen wären Veranlagung, oder durch eine mentale negative Einstellungen verursacht. Weswegen ich mich um die Kultivierung einer positiven Haltung bemühte – ich dachte nur, dass dies noch immer nicht ausreichen würde.
Ich ahnte 4 Jahrzehnte lang, dass ich „noch nicht gut genug“ bin. Dass ich mich noch mehr konfrontieren muss, um besser zu werden. Zum Beispiel, beim Weggehen auf kleine Konzerte, Stadtfeste oder Lesungen. Auf Arbeit beim Mittagessen mit den Kollegen oder bzgl. des Besuchs von Tagungen oder Elternabenden. Ich dachte immer, ich wäre zu faul und zu sehr Stubenhocker, Leseratte und Film-/Gaming-süchtig. Dass ich das abschütteln müsste, dachte ich, dass es etwas Ungutes ist, wahr mein Gefühl dazu.
Ich nahm mich also nicht als Anders wahr, sondern als noch unzureichend, mit dem Potential ausgestattet, irgendwann, nach viel Arbeit, integriert zu sein.
Besonders nach meiner Trennung mit 30 Jahren, versuchte ich, auf die Welt zu zustürmen. Meine Cousine schleppte mich ins Pub oder zu Konzerten und ich lernte, einen gewissen geselligen Mantel zu tragen und übte Smalltalk, Lockerheit und so weiter. Jedoch entsprang dem nie eine nachhaltige bleibende Freundschaft, oder gar eine neue Beziehung.
Immer wieder brauchte ich auch Rückzug. Es gelang mir nie, dieses „Faule“ an mir abzuschütteln. Ruhephasen wechselten sich mit Auf-Die-Welt-Zugeh-Phasen ab. Mit viel Vorschussvertrauen und Willen erarbeitete ich mir eine gewisse kulturelle Teilhabe – blieb jedoch immer irgendwie draußen.
Ohne den Zusammenhang zu sehen entwickelten sich gleichzeitig psychosomatische Beschwerden. Kraftlosigkeit, und schließlich auch sich wiederholende depressive Phasen (mittelgradig).
Erst 10 Jahre später, mit 40 Jahren fragte ich mich das erste Mal, was eigentlich los ist. Warum mir dieses Abschütteln des Unguten und „Eigenbrötlerischen“ nicht gelang, warum ich 4 Jahre nach meiner Psychotherapie schon wieder Hilfe brauchte, warum ich nie zufrieden bin, und warum mir dieses geselliger-Werden nicht gelang – oder nur sehr oberflächlich. Erst dann sah ich auf den immer wiederkehrenden Abgrund der Kraftlosigkeit und die lebenslangen Kopfschmerzen mit veränderter Perspektive und fragte mich das erste Mal wirklich, was los ist, ob ich vielleicht irgendwie anders bin.
Klar, ich war schon immer irgendwie anders, nicht typisch Mann, eher eine Weichwurst. Nicht so belastbar, öfter krank. Aber wie gesagt, ich versuchte mich bisher zu steigern.
Jetzt fiel mir etwas ein, was ich 5 Jahre zuvor bereits in meiner Psychotherapie ins Spiel brachte: Die Frage, ob ich vielleicht eine leichte Form des Autismus hätte. Da meine Therapeutin überhaupt nichts dazu sagte und ich selbst das auch für zu groß hielt, tat ich diese Idee wieder beiseite.
5 Jahre Später, mit 40 also – fiel mir das wieder ein, und ich fing an, zu recherchieren was leichte Formen von Autismus überhaupt sein können. Über den Begriff „Asperger“ wusste ich nicht sehr viel.
Erst hier kam mir der Gedanke, dass ich in einigen Dingen nicht unbedingt von mir auf andere schließen kann. Besonders im Erleben von Alltäglichem, Spontanem, oder bei Umweltreizen. Erst nach und nach wurde mir Vieles bewusst und ganz langsam gelang es mir, die Ursachen für Rückzug und Kopfschmerzen zu erkennen und zu versuchen, sie zu reduzieren.
Vorher erlaubte ich mir den Gedanken, anders zu sein gar nicht. Ich versuchte oft extra die Sonnenbrille wegzulassen, um mich an das helle Licht im Sommer zu gewöhnen. Dies löste natürlich auch wieder Kopfschmerzen aus.
In familiären Situationen hatte ich seit jeher einen sehr hohen moralischen Anspruch an mich und wollte nicht so sein, wie ich es bei Anderen beobachtet hatte. Ich kam aber immer wieder an Grenzen, wenn ich erledigt war, Abends zum Beispiel. Oder Morgens, wenn dem Aufbruch einige Widrigkeiten entgegen standen. Dann wurde ich gestresst und das tat mir schon leid. Das artete in ganze gestresste Phasen über Wochen aus. Dass das mehr sein könnte, das erschloss sich mir erst jetzt. Dass ich mehr Ruhepausen brauchte, als andere und sehr Stress-empfindlich bin, dass erkannte ich auch erst jetzt. Diese mir zu nehmen, hatte ich mir nie erlaubt, da ich nicht als faul gelten wollte. Erst jetzt konnte ich auch anfangen, mit meiner „Faulheit“ Frieden zu schließen, oder sie nicht mehr als Faulheit zu betrachten, sondern als notwendige Ruhepause. Und auch das Gaming ist eher für mich eine Möglichkeit, abzuschalten. Abenteuer zu erleben, ohne zu sehr überfordert zu sein. Zusammen mit den Interessen Weltraum/Science-Fiction, die sich in Lesestoff, Filmen und Gaming auch deutlich wiederfinden bei mir.
Erst jetzt also, könnte ich solche Aussagen, wie „Mein Gehirn verarbeitet Reize anders“ oder „Ich kriege schnell eine Reizüberflutung“ tätigen. Erst jetzt wusste ich also, das Andere nicht so empfinden, und was ich hier die ganze Zeit erlebe, auch für Andere zu viel wäre. Ich muss wohl in meiner Kindheit irgendwann beschlossen haben, dass ich mich anpassen möchte. Habe den Gedanken nicht mehr zugelassen, dass ich anders bin, und bin mit Anlauf auf das Leben zugegangen. Viel von meinem Kompensationsverhalten wendete ich mit den Jahren wohl mehr und mehr unbewusst an, so dass ich meine Andersartigkeit gar nicht so sehr wahrnehmen konnte. Dennoch war da natürlich ganz tief unten immer die Angst, nicht gut genug, unzureichend zu sein. Es machte mich eher zu einem sozial unsicheren Menschen, der immer wieder vor seinen Lieben über sein Leben und dessen Anstrengungen klagte. Was mich selbst störte, denn so wollte ich eigentlich gar nicht sein. Ich halte mich auch für ausgesprochen Glücks-fähig. Bei Menschen, die mir Nahe sind, habe ich auch eine sichere Bindung, was dieser sozialen Unsicherheit zumindest scheinbar widerspricht.
Seit dem sich meine Vermutung über den Autismus auch offiziell bestätigt hat, haben sich meine Symptome verstärkt. Ich denke, das hängt damit zusammen, dass ich mich genauer beobachte und Situationen neu bewerte. Dass die Anspannung nachlässt, mich anpassen zu müssen. Ich hoffe, dass ich mein Leben so umgestalten kann, dass ich wieder zumindest so robust werde, wie vor der Diagnose.
Aber wie fängt man an? Sagt man jetzt alle Schwimmhallenbesuche ab, die die Tochter einem vorschlägt, mit großen Augen und zwinkernden Wimpern? Zieht man sich noch weiter (als vorher schon) von sozialen Kontakten zurück? Wie kann das Umfeld das verkraften? Isoliert es mich nicht noch mehr, der ich mich doch schon so isoliert fühle? Wie kann man eine Partnerin finden, die nicht darunter leidet, dass man z.B. so wenig spontan ist, und eingeschränkte Interessen hat? Die einen auch noch Interessant findet, vielleicht? Und wie soll man findbar sein, wenn man sich jetzt mehr zurückzieht als vorher? Das kann also nicht die Richtung sein, die Besserung bringt.
Veränderungen sind trotz dieser Erkenntnis ganz schön schwierig und funktionieren nicht auf einmal. Für den Anfang ist es schon mal schön, überhaupt zu erkennen, warum die Kopfschmerzen, die Erschöpfung und das starke Rückzugsbedürfnis entstehen. Wegen jahrzehntelanger Selbstzensur ist das manchmal nur allmählich zu erkennen. Ein zu helles Büro, eine zu laute Klimaanlage, oder Gespräche mit neuen Leuten.
Weniger Pflicht-Termine – ohne sich aber komplett überall raus zunehmen. Mehr Mut zu haben, kleine Helferlein wie Sonnenbrille und Noise Cancelling in vermeintlich unpassenden Situationen zu benutzen ist ein Anfang, schätze ich. Mehr ist jedoch notwendig. Wie kriegt man die eigenen Wünsche, die ja auch oft am Geld hängen, zusammen mit den eigenen Beschränkungen? Ich weiß jedenfalls, dass es mir bei allen Schwierigkeiten im Vergleich zu anderen Autisten gut geht. Als Autist einen Job zu haben, ist nicht selbstverständlich. Kinder zu haben wohl auch nicht. Dennoch ganz subjektiv sehne ich mich nach einer Beziehung, einem verständnisvollen Umfeld und die Möglichkeit, meine Ängste, für andere unzureichend zu sein, ablegen zu können. Denn erst wenn ich nicht mehr versuche, meine Unzulänglichkeiten zu überspielen, werde ich für andere ehrlicher, wahrnehmbarer, und vielleicht auch interessanter, schätze ich.