Kein Recht auf Schicksal, kein Recht auf Glück

Wenn ich mir Naturdokumentationen anschaue und sehe, wie ein Tier auf die Jagd geht, kommt es auf die Situation an, ob dieses Tier Erfolg hat. Hat die sprechende Person das jagende Tier schon eine Weile begleitet, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass es Erfolg hat, wurde das Opfertier begleitet, wird es wohl entkommen können. So zumindest meine Erfahrung, was Dokumentationen angeht.

Das ist natürlich nur so, weil die Filmemachenden im Nachhinein entscheiden können, welche Szenen sie mehr herausstellen, und ob sie den Zuschauenden eine Bindung zu einem Tier aufbauen lassen wollen, wenn es gleich danach sterben soll, oder nicht.

Die Natur selbst ist Erbarmungslos. Auch das süßeste Kaninchenjunge kann einem Fuchs zum Opfer fallen, und auch das tollste Löwenbaby kann gefressen werden. Die Sonne wird danach ungerührt wieder aufgehen, der Planet wird sich weiter drehen und unser Sonnensystem sich weiter mit der Galaxis bewegen.

Kein Tier hat ein Recht darauf, weiterzuexistieren, glücklich zu sein, sein Rudel oder seine Art zu erhalten.

So ist das auch mit uns, auch wenn wir das zuweilen vergessen. Vor der Natur, dem Universum haben wir kein Recht darauf, zu leben, geschweige denn, glücklich zu werden. Nur die uns Nahestehenden werden darauf eine Zeit lang reagieren, nur dadurch hat es vielleicht eine Bedeutung, die sich jedoch auch nur auf den Bereich des persönlichen Miteinanders erstreckt.

Im Philosophie-Magazin las ich kürzlich die Worte „Wir sind Geworfene in einer Welt, in der wir uns als geworfen begreifen“ (frei nach Martin Heidegger)1.

Diese Worte lösten bei mir einen Aha-Effekt aus, es stellte mir eine Tatsache klar heraus, die bisher schon immer völlig unbewusst und unausgedrückt unter der Oberfläche schwamm.

Es wurde mir klar, dass auch ich mich als geworfen begreife. Ich habe, soweit ich weiß, nie darum gebeten, zu leben und all dies auszuhalten, mich zusammenreißen zu müssen. Diese anerzogene Spannung aufrecht zu erhalten und Gesellschaftskompatibel leben zu müssen.

Ich lebe gerne, ich mag den Herbst, wie er dunkle Wolken vor sich her treibt, den Wind um meine Nase, oder den Geruch von abendlichen Sommerwiesen, meine Kinder, tolle Geschichten und vieles Weitere. Dennoch hatte ich (nach meiner Erinnerung) keine Wahl, hier zu landen und bin gezwungen, mit den aktuell herrschenden Bedingungen zu leben.

Lebten wir in der Steinzeit, wäre ich vielleicht schon längst tot. Verendet, ohne zu wissen, das nur einen Kilometer weiter, das ersehnte Wasser fließt, erkrankt an einem Keim, der mich besiegt hatte, ein dummer Unfall bei der Jagd oder verspeist von einem Tier. Möglicherweise auch getötet von einem Konkurrenten aus meiner Gruppe, oder gar verstoßen.

Und das wäre in Ordnung so. Wie ein Wolf, eine Gans oder ein Fisch, verendet im reißenden Strom des Lebens mit all seinen scharfen Kanten und anderen Jägern, die auch nur leben wollen. Ich wäre nicht besser als sie und hätte nicht mehr Recht als sie, zu leben.

Erst sollte der Text „Vom fehlenden Recht auf Glück“ heißen. Aber Fehlend ist etwas Negatives, und es räumt die Möglichkeit ein, dies vielleicht doch zu erlangen. Aber das Universum diskutiert nicht. Daher fehlt dieses Recht auch nicht, sondern es ist schlichtweg nicht existent, war es nie. Es steht niemals zur Diskussion.

So warm die Sonne auch scheinen mag, und so schön sich zwischenmenschliches Glück auch anfühlt, am Ende ist das kalte Enden selbst normal und nichts Besonderes.

Nur wir Menschen haben uns da etwas geschaffen, um eine watteweiche Schicht zwischen uns und der unweigerlich fortschreitenden Leben-schaffenden und -nehmenden Natur zu schieben: den Gesellschaftsvertrag.

Je nach Geburtsort, nicht unbedingt den selben. Er besagt, dass wir zusammenarbeiten und einen Teil unseres Lohns abgeben, um unser aller Leben besser, sicherer und gesünder und sogar länger zu machen. Er ermöglicht uns auch, uns zu spezialisieren, weil es genug andere gibt, die die anderen nötigen Tätigkeiten übernehmen: durch Arbeitsteilung.

Vor unserer rechtsstaatlichen, demokratischen Gesellschaft in Deutschland haben wir zwar immernoch kein Recht auf Glück, aber immerhin, ein Recht auf medizinische Behandlung, auf freie Meinungsäußerung, darauf so sein zu dürfen wie wir sind, egal wie eingeschränkt, oder leistungsfähig.

Laut Europäischer Menschenrechtskonvention haben wir sogar ein Recht auf Leben. Dies, so würde ich meinen, gilt jedoch in Bezug auf andere Menschen und der Gesellschaft. Ein hohes und wertvolles Recht, das verteidigt gehört. Vor der Natur, vor unbehandelbaren Krankheiten oder dem Alter gilt dies jedoch weiterhin nicht.

Zumindest auf dem Papier sind uns diese Rechte bescheinigt – so lange wir die Freiheit anderer nicht einschränken. In der praktischen Umsetzung mag das des Öfteren nicht hinkommen. Unsere Gesellschaft ist nicht fair. Es gibt Menschen, die sich alles kaufen können. Gesundheit, Recht, mehr Zeit. Wir gehören vielleicht nicht zu dieser Gruppe.

Dennoch ermöglicht uns der Gesellschaftsvertrag, dass wir mehr Rechte haben, als ohne ihn. Auch wenn es uns in Deutschland vergleichsweise gut geht, ist das Leben immer noch nicht fair oder könnte für jeden als „gerecht“ oder „leicht“ empfunden werden.

Wir können der Gesellschaft gegenüber jedoch mehr Rechte einfordern, als vom Universum oder der Natur. Je nach Gesellschaftsform mehr oder weniger.

Was wir aber nicht einfordern können ist, in welcher Art von Gesellschaft wir leben, oder in welcher Gruppe innerhalb dieser Gesellschaft wir leben. Auch in die Gesellschaft sind wir zunächst geworfen. Denn vom Universum können wir, wie oben festgestellt, überhaupt nichts einfordern. Wir könnten uns in diesem Fall höchstens entscheiden, daran zu arbeiten, eine andere Gesellschaftsschicht zu erreichen, oder gar in eine andere Gesellschaft zu wechseln. Auch hier haben wir wieder kein Recht darauf, dass uns das gelingt.

Wir sehen also, dass die menschliche Gesellschaft uns das Rechte-lose Universum etwas abfedert und ein paar Rechte zugesteht. Aber am Ende haben wir zumindest zur Geburt keinen Einfluss darauf, welche Gesellschaft uns umgibt.

Was man sich noch als zusätzliche Wärmeschicht oder Abfederung vor dem Universum geben kann, ist der Glaube. Der Glaube, dass ein ungerechter Mensch seine Strafe kriegen wird, dass man für die Opfer, die man im Leben bringt, belohnt wird. Man kann so im Nachhinein Dinge schön reden oder rechtfertigen.

Man weiß es aber nicht sicher, und ganz ehrlich, warum sollte die geistige Welt nun ausgerechnet so gestaltet sein, wie man es sich ausmalt? Wie wahrscheinlich ist das? Ich denke, diese Wahrscheinlichkeit ist sehr gering.

Klar, die Wahrscheinlichkeit, dass es eine Art geistige Welt gibt, liegt auf den Punkt genau bei 50 Prozent. Ganz klar. Hier kann nichts bewiesen werden, weder die Existenz der geistigen Welt, noch ihre Nichtexistenz.

Doch, dass nun die geistige Welt ganz genau so aussieht, wie man es sich ausmalt, dürfte sehr viel unwahrscheinlicher sein.

Als wissenschaftlich denkender Agnostiker kann ich da nur einräumen, dass dem Prinzip der abnehmenden Ordnung, dem unweigerlichen Abgeben/Umwandeln potentieller Energie, dem Altern und Vergehen, eventuell ein Prinzip des Lebens und Schaffens entgegen steht. Diese beiden, sich gegenüberstehenden Prinzipien des Universums haben zusammen eine gewisse Schönheit und ganz ausschließen möchte ich die Welt des Geistlichen daher nicht.

Also nach diesem kurzen Ausflug ins Metaphysische ist vorerst klar, dass wir rein praktisch damit erst mal nicht rechnen können. Klar, vielleicht sind wir alle Meta-Wesen, die sich momentan in einem Massive Multiplayer Online Role Playing Game befinden und nach dem Tod respawnen – aber dieses Wissen würde uns jetzt hier – ingame – überhaupt nichts bringen.

Wir würden uns immernoch als Geworfene empfinden und müssten mit diesem Universum klar kommen. Wir haben, weder in der Gesellschaft, und schon garnicht vor dem Universum irgendein Recht auf Leben, Glück, oder gar einer schicksalhaften Bedeutung unserer selbst. Außer der, die Wahrscheinlichkeit für das Überleben unserer Spezies zu erhöhen, zum Beispiel durch Arbeit, Ideen, Nachwuchs oder auch unseren heldenhaften Tod.

Als weiteren Watte-Faktor, als Puffer-Zone vor dem kalten Universum haben wir uns die Moral geschaffen. Damit können wir schlechtes Benehmen bestrafen und Gutes ehren. Darauf fußen die meisten Rechte, die wir uns in der Gesellschaft erstritten haben. Oder vielmehr unsere Ahnen haben diese Rechte erstritten, in dem sie die Moral Jahrhundert für Jahrhundert weiter ausbauten und in die Gesetzgebung haben mit einfließen lassen.

Worauf ich mit dieser langen Vorrede hinaus will ist: Ich kann nicht darauf bauen, dass die Dinge besser werden, wenn es mal schlecht läuft. Ich habe kein Recht darauf, genauso viel Reisen zu können, wie Andere. Und schon gar nicht, habe ich ein Recht auf die große Liebe oder tolle Freunde. Kein Recht auf Geld, kein Recht auf Gesundheit. Neid wird in dem Sinne obsolet, da wir eh nichts daran ändern können. Also ja, wir können auf etwas hinarbeiten, aber ein Recht, das Ziel zu erreichen, haben wir nicht.

Ich bin völlig Rechte-los. Klar, die Rechte in einer Gesellschaft existieren, da ich allerdings keinen Einfluss auf die Gesellschaft, in die ich geboren werde, habe, habe ich auch diese Rechte nicht wirklich, höchstens das Glück, in dieser Hinsicht Glück zu haben – und ich kann mir vornehmen für eine Ausweitung dieser Rechte zu streiten, einzustehen.

Diese Perspektive der Rechtelosigkeit ermöglicht etwas Großartiges: Dankbarkeit, über die eigene Situation. So schwierig und verworren sie auch sein mag. Auch wenn sich das Leben in der Gesellschaft gerade verschlechtert. Ich hätte eigentlich schon längst vergangen sein können. Aber noch bin ich hier, ich lebe und fühle. Das ist ein Glück. Eines, auf das ich nie ein Recht hatte. Weil es mit den Rechten der anderen Wölfe, Bären & Krankheitskeime, kollidieren würde.

Es gibt vielleicht kein Schicksal, dass ich noch erfüllen muss, weil ich sofort sterben könnte. Aber vielleicht ist es Schicksal, dass ich genau jetzt hier bin und lebe. Ein Schicksal im Nachhinein gedeutet, auf dass ich aus der Vergangenheit heraus aber kein Recht hatte.

Was für ein Glück am Leben zu sein! In dieser unfairen Gesellschaft, die aber besser ist, als manch andere. Vielleicht bin ich krank, oder eingeschränkt, aber ich bin hier, bin bis hierher gekommen. Das ist ein Geschenk. Vom Universum, an mich selbst.

Ich habe kein Recht vor dem Universum auf mein Glück oder Leben, aber wo ich schonmal hier bin, und mir dessen bewusst, kann ich dass einzig Sinnvolle tun: ich kann mein Leben selbst in die Hand nehmen. Niemand anderes wird dafür Sorgen, dass ich zu meinem Glück komme, kein göttliches Prinzip (zumindest kann ich damit nicht rechnen). Ich muss selbst Verantwortung dafür übernehmen, wie ich mein Leben sehe. Wie ich die Karten ausspiele, die ich nunmal auf der Hand habe. Andere werde ich nicht bekommen, egal wie gut oder schlecht sie sind.

Ich habe auch kein Recht auf die Moral, oder ihren Erhalt. Kein Recht darauf, dass die so entstandenen Gesetze für freie Meinungsäußerung oder Grundversorgung erhalten bleiben. Aber ich kann dankbar für sie sein und die Verantwortung übernehmen, für ihren Erhalt und Ausbau einzustehen. Sei es bei den freien Wahlen, Demonstrationen, oder in Gesprächen mit Mitmenschen. Oder durch das Erkennen, dass Vernunft-basierte Gespräche mit realitätsverweigernden Personen eventuell nicht möglich sind.

Gerade als Autist kann ich mir noch so sehr wünschen, dass sich Dinge bessern. Beim zuhause auf eine rettende Prinzessin warten, ist die Wahrscheinlichkeit einer Verbesserung nunmal sehr gering. Es wäre unverantwortlich, dort zu verbleiben. Das Universum wird nicht mit den Schultern zucken, wenn ich vereinsamt zuhause vergehe. Es gibt mir keinen Bonus im Gegenzug zu meinen Einschränkungen. Es hat auch keine Verantwortung dafür. Am Ende wird das keinen interessieren. Klar könnte die Gesellschaft mehr Raum für Leute wie mich schaffen. Und womöglich wird ein Recht darauf irgendwann umgesetzt, wenn ich mithelfe, aber selbst dann muss ich aufstehen, die Wohnung verlassen und mich dort hin begeben. Ich muss also selbst aktiv werden – auf meine Art. Eine andere Person kann und wird das nicht für mich tun. Es bringt auch nichts, anderen die Schuld an meiner Situation zu geben. Das ändert nichts. Dem Universum ist das egal, die Zeit oder vielmehr die kausal zusammenhängenden Ereignisse schreiten ungerührt fort. Wenn ich etwas anders haben will, muss ich es selbst tun. Nur so ändert sich die Kausalkette. Und ich kann auch nur dass tun, was in meiner Kraft steht. Für alles darüber hinaus, kann ich nichts. Das erleichtert auch gegenüber Dingen, die nicht funktionieren, oder schlechter werden.

Es gibt keine Ausrede für ein mündiges, zum Handeln fähiges Wesen, dafür, das Leben nicht selbst in die Hand zu nehmen und es, soweit möglich, auf ganz eigene Weise zu gestalten. Egal, welche Karten das Leben austeilt. Vor dem Universum sind wir alle gleich Rechte- und Bedeutungslos. Das beruhigt und motiviert mich und macht mich dankbar.

  1. Leider finde ich den Artikel nicht mehr und somit auch nicht den genauen Wortlaut. Auf der Webseite des Magazins findet sich nur einer aus einer Sonderausgabe – diesen meine ich leider nicht. Vielleicht ist es genau jenes Heft, welches ich gerade an meinen Vater verliehen habe. ↩︎

Die Kultivierung des Hellen – und dessen Wandel

Heute schreibe ich von zuhause. Normalerweise setze ich mich dafür gern in ein Café. Zum Einen, weil ich dort weniger Ablenkungen habe, wie Netflix, Steam, oder den Kühlschrank. Zum Anderen, weil ich so oft es geht versuche, mich dem Hellen zuzuwenden. Dem Teil des Lebens, der mir Auftrieb gibt, ein gutes Gefühl. Der selbst nichts vorher Erlebtes kompensieren will, sondern einzig das Streben zum offenen, zufriedeneren und möglicherweise schaffenden Selbst darstellt.

Bin ich im Hellen, dann gehe ich mit einer positiven Haltung durchs Leben. Ich sehe womöglich zufriedener aus. Es scheint so, dass ich dies dann auch nach außen hin ausstrahle, und ich erlebe dann Situationen, die mich im Hellen halten. Ein Lächeln einer Passantin oder die Kraft jemandem zu Helfen und sich dadurch gut zu fühlen.

In guten Zeiten kann sich das Helle über längere Zeit strecken.

Wenn ich mich also bewusst versuche in eine positive Haltung zu bringen, dann, so habe ich die Erfahrung gemacht, erlebe ich die Welt auch positiver. Daher ist es seit Jahren mein Bestreben, dieses Helle zu fördern, zu kultivieren. Vielleicht gerade weil ich durch meine Einschränkungen oft an meine Grenzen komme und dadurch auch schwierige Phasen habe, in denen ich nicht weiß, ob ich mein Leben weiter auf die Reihe kriege oder irgendwann nicht mehr kann. Ich bin sozusagen sehr oft am Limit.

Daher kann ich mich nicht immer im Hellen bewegen, doch ich versuche es, so oft ich kann. Nach einer Arbeitswoche verbringe ich den Freitag Nachmittag und Samstag gerne recht allein und zurückgezogen, um mich auszuruhen und Kraft zu tanken. Wenn ich Glück habe, bin ich Sonntag in der Verfassung, etwas zu tun, was Teil des Hellen ist. Mich in ein Café zu setzen, zu schreiben, danach vielleicht noch in den Park zu gehen und am Wasser zu lesen oder Fotos zu machen. An der Gesellschaft teilzunehmen. Am liebsten kleine, einfache Dinge. Ich muss nicht eine Stunde mit der S-Bahn zu einem Museum fahren. Lieber hier in der Gegend.

Der Aufenthalt im Hellen symbolisiert für mich die Möglichkeit, die Person zu sein, die ich eigentlich sein möchte. Je mehr Zeit ich im Hellen verbringen kann, desto mehr bin ich diese Person. Und der Aufenthalt dort hat für mich auch noch eine andere, wichtige Komponente: Ich möchte mein Leben gerne teilen – und ich habe das Gefühl, dass ich aus dem Hellen heraus die Chance habe, jemanden Kennenzulernen. Und da kommt auch eine Schwierigkeit in diese Sache.

Während des Aufenthalts im Hellen bin ich zum Teil weniger angepasst und maskiert als zum Beispiel an einem durchschnittlichen Arbeitstag. Ich muss nicht so funktionieren. Ich gehe ja nur spazieren oder esse einen Kuchen in einem Café – schreibend. Zum anderen versuche ich mich auf eine andere Weise anzupassen – die Lautstärke im Café aushalten. Oder mit fremden Menschen reden. Es ist also keine komplett entspannte Situation. Hinzu kommen weitere autistischen Eigenschaften: Ich finde die Unterhaltungen mit Fremden meist anstrengend. Dazu kommen meine eingeschränkten Interessen. Ich genieße es einfach nicht, mir verschiedene Themen von anderen anzuhören oder mich auf deren Lieblings-Sportarten einzulassen.

Wenn ich ganz ehrlich bin, möchte ich gerne eine Frau treffen, die ein bisschen so tickt wie ich. Oder einen Freund, der sehr ähnliche Interessen hat. Durch meine Einsamkeit ist es sehr schwer, nicht zu hoffen, im Hellen eine tolle Person zu treffen. Hoffe ich es aber zu sehr, bin ich nicht im Hellen. Ich bin dann angespannt, bewerte Blicke über, frage mich ständig, ob ich ein Gespräch anfangen soll. Und wenn ich es anfange, kann es sein, dass es mich sehr anstrengt.

Kurz, Aufenthalte in Cafés oder anderen gesellschaftlichen Orten sind für mich – zumindest, wenn ich allein bin – nicht unbedingt entspannend. Der helle Charakter kann durch ein Zu-Sehr-Wollen verschwinden. Der Aufenthalt im Hellen ist für mich also keine Sache, die ich unendlich strecken kann und ich benötige auch wieder den Ausgleich – die Ruhe.

Wäre ich in einer Beziehung, oder hätte einen guten Freund, wären für mich diese Aufenthalte wesentlich entspannter, weil dieses Zu-Sehr-Wollen nicht mehr stören würde. Doch wie lernt man jemanden Kennen, wenn die eigenen Interessen nicht im öffentlichen Raum stattfinden, und es schwer ist, sich für andere Interessen zu begeistern?

Seit ich die Autismus-Diagnose bekam, denke ich viel darüber nach. Deshalb sitze ich heute zuhause. Ich dachte den ganzen Tag darüber nach, dass ich ins Café gehen könnte, aber ich habe das schon so viele Jahre so gemacht. Ich habe Angst, wieder enttäuscht davon nach hause zu kommen, dass ich niemanden Kennengelernt habe.

Diese Angst entlarvt die Idee, die ich vom Hellen hatte teilweise als Illusion. Durch die Diagnose wandelt sich für mich die Idee davon, was das Helle eigentlich für mich ist. Ich weiß noch nicht, was ich tun kann, um mit der Gesellschaft oder tollen Einzelpersonen wirklich in Kontakt zu kommen. Wozu raus gehen, wenn man eh weiß, dass eine passende Person für einen Asperger wie mir sehr schwer zu finden ist? Wozu Dinge tun, die zwar hell, aber auch anstrengend sind, wenn die eigentlich Hoffnung dahinter seit Jahren nicht erfüllt wurde? Ist es nicht vorerst besser, diese Dinge nicht zu tun? Dieses Getriebensein abzulegen, etwas im Außen machen zu müssen, der Sache selbst willen aber auch um jemanden Kennenzulernen? Nicht mehr zu suchen? Immer zu hoffen, jemanden kennenzulernen macht die Sache doch zu verkrampft. Auch das Online-Dating führte für mich noch nicht zum Erfolg, obwohl die Möglichkeit, Menschen nach Interessen filtern zu können, verlockend ist. Man stürzt dabei zu schnell aufeinander zu und bisher war es immer eher schmerzhaft, oder zumindest kraftraubend weil unecht.

Allerdings kann es auch keine Lösung sein, nur zuhause zu bleiben. Nach der Ruhe fordert mein Selbst auch wieder die Teilnahme am Hellen ein. Ich muss mir vielleicht eine neue Idee davon schaffen, und es weiter kultivieren. Wenn es keine Räume für Begegnung gibt, muss ich vielleicht selbst einen schaffen. Vielleicht über ein schwarzes Brett eine Gruppe gründen, eine Gruppe von ebenfalls leisen Menschen, die verstehen, das man nicht immer Kraft hat, sich zu treffen. Wo ich weniger das Gefühl habe, mich strecken und maskieren zu müssen. Das wäre schön.

Das Sehnen nach einem Miteinander

Wenn ich lese oder höre, dass autistische Menschen gerne für sich selber sind, kann ich das aus meiner Perspektive nur bedingt bejahen. Ich habe sehr gerne viel Zeit für mich – ja. Ohne Druck, ohne irgendwo hin zu müssen – einfach zum Erholen vom Alltag, der Arbeit. Mich nicht verstellen zu müssen. Aus so einer Situation kann ich mich auch leichter entschließen, etwas zu unternehmen. Gleichzeitig habe ich auch in solchen Ausgangssituationen bereits Stress, den ich mir selbst mache, wie „Müsste ich nicht eigentlich etwas Sinnvolles tun?“ Ich bin dabei, dies abzulegen.

Jedenfalls ist so eine freie und selbst bestimmbare Zeit für mich sehr erholsam. Aber es geht darüber hinaus. Es ist die Zeit, in der ich etwas tun kann, bei dem ich richtig abschalten, bzw. ich mich vertiefen kann. Eine Recherche über ein bestimmtes Thema, ein Buch, eine Serie oder ein Computerspiel. Ich denke, dass das Viele kennen und diese Zeit sehr zu schätzen wissen. Ich brauche nur viel mehr davon, als die meisten.

Dabei bin ich aber nicht zwingend gerne allein, nur für mich. Ich würde es schon schätzen jemanden in meiner Nähe zu haben. Hier und da mal ein paar Worte zu wechseln beisammen zu sein, auch wenn jeder etwas für sich macht. Das jemand da ist, und man selbst aus der Perspektive des Anderen ebenso da ist.

Das müsste aber ein Mensch sein, der mir nahe ist, und bei dem ich mich entspannen kann, weil es ok ist, so zu sein.

Das Problem ist nicht, dass ich Vieles allein machen möchte, sondern dass ich nicht sehr flexibel bezüglich der Art und Weise bin, wie ich diese Dinge tun möchte. Wenn ich zum Beispiel am Computer spiele, möchte ich das unglaublich gern mit Anderen teilen. Ich wäre gerne Teil einer Gruppe und fühle mich ohne sie oft einsam. Versuche ich mich jedoch in eine Gruppe zu integrieren, fühle ich mich einfach schnell unwohl und unsicher, merke wieder, wie ich mich maskiere und das Ganze weniger entspannend wird.

Vielleicht sind meine Mitspieler zu ehrgeizig dabei, oder machen auf cool, womit ich dann nicht klar komme. Das muss nicht einmal wirklich so sein, sondern ist ja dann auch nur meine Wahrnehmung – die falsch sein kann. Am liebsten spiele ich tatsächlich mit meinen Kindern, oder meinem Bruder und seinem Freund aus der Schulzeit, der so auch mein Freund wurde. Weil ich sie kenne, und sie kennen mich. Sie wissen, wie ich spiele, was ich gut finde. Bei meinen Kindern konnte ich sie auch an meine Art gewöhnen, zu spielen. Gewinnen ist schön, aber nichts gegen einen Lachanfall über das Wie des eigenen Scheiterns.

Ähnlich ist es mit anderen Dingen. Das macht es schwierig für mich, teil einer Gruppe zu werden. Früher habe ich mich versucht über-anzupassen und mich dann gewundert, wenn ich nach ein paar Wochen keine Lust mehr hatte. Oder warum ich nach den Treffen immer erst einmal Abstand brauchte – obwohl ich mich doch eigentlich integrieren wollte. Heute merke ich viel früher, wie fremd ich mich dann eigentlich fühle. Das ist ein Dilemma. Am liebsten treffe ich mich nur mit einer Person, dann kann ich mich leichter auf sie einstellen und gleich in die Tiefe gehen. Das geht auch nicht mit jedem Menschen. Am Besten mit denen, die nicht irgendeine Agenda haben, sondern die offen und sie selbst sind, denke ich.

Ich schwinge nicht so leicht mit anderen Leuten, erst wenn sie mir sehr nahe sind. Ich nehme wahr, dass da etwas wie eine Schwingung ist, aber es gelingt mir nicht so gut, mitzumachen, bzw. ist mir das irgendwie zu viel, zu nahe, zu intensiv, um es mit einem neuen Menschen zu erleben.

Mein durchaus vorhandener Charme und die Geselligkeit sind nur aufgesetzt und eigentlich ein Im-Dunkeln-Tappen, gewürzt mit einem Vorschussvertrauen auf meine fortlaufende Wahrscheinlichkeitsberechnung, was denn gerade das passende Verhalten sein könnte.

Es wäre schön, wenn es in einer Gruppe möglich wäre, falls es anstrengend wird, einfach die Kopfhörer aufzusetzen und abzutauchen – eigene Dinge zu tun, um sich zu erholen. Dann wieder auf die anderen zu gehen, wenn wieder Lust und Kraft da ist. Vielleicht wirkt das von außen egoistisch – ich nutze die Gruppe nur, wenn es mir passt. Schon deshalb ist ein transparenter Umgang mit der Diagnose eventuell sinnvoll. Vielleicht wäre ich dann Gruppen-tauglicher, weil ich nicht mehr die ganze Zeit maskieren müsste. Wenn ich so viel vertrauen in eine Gruppe hätte, dass das so geht, vielleicht würde ich auch die Maske langsam immer mehr ablegen können, und so länger präsent bleiben?

Bisher ist mir das nie gelungen. Ich wollte immer teil einer Gruppe sein und halte mich für Anschlussmotiviert – bin aber gleichzeitig unsicher und möchte gerne meine Ruhe. Ich kann mich auch an das Gefühl in der Kindheit erinnern, wenn ich zuhause bleiben musste, weil es mir irgendwie nicht gut ging (Kopfschmerzen). Wenn die anderen zum Beispiel baden gefahren sind, verspürte ich trotz des Ruhebedürfnisses ein starkes Sehnen – die Angst nicht dabei zu sein und etwas Tolles zu verpassen. Auch heute habe ich das noch. Oder die Angst, Menschen zu enttäuschen weil man ihnen nicht die gleiche Aufmerksamkeit entgegenbringt, wie sie einem. Diese Angst, egoistisch zu wirken und Anderen die Lage nicht erklären zu können, dass es eben nicht egoistisch sein muss, sondern an den eigenen Grenzen liegt. Die Angst, auf sozialer Ebene nicht zu genügen.

Schaue ich Serien, wie Seinfeld oder Friends, wünsche ich mir eigentlich auch so eine Art von kleiner Gruppe. Ich habe nie geschafft mir eine solche zu bauen. Ich lache über die Scherze, die sie miteinander treiben und weiß gleichzeitig, ich würde die Dinge wahrscheinlich in der Situation selbst nicht als Scherz erkennen und sie zu wörtlich nehmen. Mir müsste man immer korrigierend sagen, was wie gemeint war. Mittlerweile verstehe ich auch, dass nicht alles wörtlich gemeint ist – spaßig sein soll. Doch trotzdem ich das weiß, verletzen mich raue Äußerungen immer noch. Heißt das jetzt aber, dass so etwas für mich nicht drin ist? Nebenbei: mir ist natürlich klar, dass dies nur Sendungen sind, und sie nicht die Realität abbilden. Dennoch lernte ich viel aus Serien. Immer wenn Data etwas über die Menschen erklärt bekam, hörte auch ich gespannt zu. Und auch aus Comedy-Sendungen erhielt ich eine Ahnung darüber, wie Menschen miteinander umgehen. Wie ungesagtes im Raum steht, scheinbar für alle Glasklar, nur mir ging da ein Licht auf.

Sind mir Menschen erst einmal vertraut, treffe ich mich auch mal zu Dritt oder viert. Habe ich mich mit zu vielen oder zu fremden Menschen getroffen, und erlebe das dann als anstrengend, brauche ich danach ein paar Tage, manchmal auch Wochen meine Ruhe. In dieser Zeit hätte ich gerne trotzdem jemand Vertrautes um mich – natürlich mit dem Verständnis, dass ich dann nicht so viel machen kann. Habe ich so einen Menschen nicht bei mir, fühle ich mich einsam.

Es ist also keineswegs so, dass alle autistischen Menschen unbedingt allein sein wollen. Ich denke, ich spreche nicht nur für mich, wenn ich sage, dass auch autistische Menschen soziale Wesen sind. Auch andere beschreiben das zum Glück mittlerweile so.

Nur habe ich das für mich noch nicht so richtig hinbekommen. Die Menschen um mich haben vielleicht einfach nicht die passenden Interessen, oder nehmen sich nicht mehr die Zeit dafür.

Möglicherweise liegt das auch in der Natur der Sache, dass es eher unwahrscheinlich ist, dass man Menschen findet, die diese speziell ausgerichteten Interessen teilen. Es muss für Außenstehende manchmal anstrengend sein, wenn man immer von sehr ähnlichen Themen redet und versucht, sie dafür zu begeistern.

Das ist wahrscheinlich der Knackpunkt. Wie findet man Menschen, die die gleichen Interessen haben, und deren Art und Weise, diese Interessen zu begehen, kompatibel ist? Reine Internetkontakte kommen für mich da leider nicht in Frage. Ich weiß nicht, ob es da nur mir so geht, aber diese Internetkontakte, z.B. auf einem Discordserver für ein Spiel, sind für mich immer sehr abstrakt. Es fällt mir sehr schwer, zu ihnen eine Bindung aufzubauen, es bleibt immer sehr unpersönlich, was es auch wieder für mich sehr anstrengend macht. Ein bleibender Kontakt müsste sich für mich zusätzlich auch in der Offline-Welt abspielen.

Manchmal denke ich, dass ich eigentlich nur einen Menschen brauche, der immer irgendwie in der Nähe ist, der wenigstens ein bisschen meine Interessen teilt. Dann am besten als Liebesbeziehung.

Aber kann man denn einem einzelnen Menschen diese Last auferlegen, all diese Bedürfnisse zu erfüllen? Kann es überhaupt einen passenden Menschen geben? Ich habe eher gehört, dass es verschiedene Menschen im Leben geben sollte, mit denen man dann auch verschiedene Sachen tun kann. Aber genau damit habe ich Probleme. Zu viele Kontakte, so viele Geburtstage zu merken, sich regelmäßig melden.

Und wie überwindet man den tiefen Graben zu einem neuen Menschen – sei es auch nur ein Freund – so dass der Kontakt bestehen bleibt? Wie kann man sich so lange in seiner Nähe aufhalten, dass er einem vertraut wird – wenn man immer wieder seine Ruhe braucht? Wie ist das Aufzulösen? Und wie findet man Gleichgesinnte?

Der Weg zur Selbsterkenntnis

Wenn ich im Netz Videos oder Texte von anderen hoch-funktionalen Autisten sehe oder lese, begegnen mir immer wieder Aussagen wie „Ich nehme alle Gespräche gleich laut wahr“ oder „mir fällt es schwer, Emotionen in meinem Gegenüber zu erkennen“. Oder auch: „Ich vermeide Blickkontakt“.

Ich konnte mich mit solchen Sätzen anfangs nie identifizieren, da diese Aussagen eine gewisse Aufgeklärtheit über das eigene Anderssein voraussetzen. Ich kannte jedoch nur mich, und ich ging davon aus, dass es weitestgehend normal ist, wie ich solche Situationen erlebe. Mir war gar nicht klar, dass es anderen anders gehen könnte.

Klar, ich wusste schon, dass anderen gewisse Dinge leichter fallen – wie sich in sozialen Situationen zu bewegen – ich hielt mich für einen extrovertierten Introvertierten. Aber das es mit einem geringeren sozialen Verständnis zusammenhängen könnte, wusste ich nicht. Oder ich dachte, die vielen Kopfschmerzen wären Veranlagung, oder durch eine mentale negative Einstellungen verursacht. Weswegen ich mich um die Kultivierung einer positiven Haltung bemühte – ich dachte nur, dass dies noch immer nicht ausreichen würde.

Ich ahnte 4 Jahrzehnte lang, dass ich „noch nicht gut genug“ bin. Dass ich mich noch mehr konfrontieren muss, um besser zu werden. Zum Beispiel, beim Weggehen auf kleine Konzerte, Stadtfeste oder Lesungen. Auf Arbeit beim Mittagessen mit den Kollegen oder bzgl. des Besuchs von Tagungen oder Elternabenden. Ich dachte immer, ich wäre zu faul und zu sehr Stubenhocker, Leseratte und Film-/Gaming-süchtig. Dass ich das abschütteln müsste, dachte ich, dass es etwas Ungutes ist, wahr mein Gefühl dazu.

Ich nahm mich also nicht als Anders wahr, sondern als noch unzureichend, mit dem Potential ausgestattet, irgendwann, nach viel Arbeit, integriert zu sein.

Besonders nach meiner Trennung mit 30 Jahren, versuchte ich, auf die Welt zu zustürmen. Meine Cousine schleppte mich ins Pub oder zu Konzerten und ich lernte, einen gewissen geselligen Mantel zu tragen und übte Smalltalk, Lockerheit und so weiter. Jedoch entsprang dem nie eine nachhaltige bleibende Freundschaft, oder gar eine neue Beziehung.

Immer wieder brauchte ich auch Rückzug. Es gelang mir nie, dieses „Faule“ an mir abzuschütteln. Ruhephasen wechselten sich mit Auf-Die-Welt-Zugeh-Phasen ab. Mit viel Vorschussvertrauen und Willen erarbeitete ich mir eine gewisse kulturelle Teilhabe – blieb jedoch immer irgendwie draußen.

Ohne den Zusammenhang zu sehen entwickelten sich gleichzeitig psychosomatische Beschwerden. Kraftlosigkeit, und schließlich auch sich wiederholende depressive Phasen (mittelgradig).

Erst 10 Jahre später, mit 40 Jahren fragte ich mich das erste Mal, was eigentlich los ist. Warum mir dieses Abschütteln des Unguten und „Eigenbrötlerischen“ nicht gelang, warum ich 4 Jahre nach meiner Psychotherapie schon wieder Hilfe brauchte, warum ich nie zufrieden bin, und warum mir dieses geselliger-Werden nicht gelang – oder nur sehr oberflächlich. Erst dann sah ich auf den immer wiederkehrenden Abgrund der Kraftlosigkeit und die lebenslangen Kopfschmerzen mit veränderter Perspektive und fragte mich das erste Mal wirklich, was los ist, ob ich vielleicht irgendwie anders bin.

Klar, ich war schon immer irgendwie anders, nicht typisch Mann, eher eine Weichwurst. Nicht so belastbar, öfter krank. Aber wie gesagt, ich versuchte mich bisher zu steigern.

Jetzt fiel mir etwas ein, was ich 5 Jahre zuvor bereits in meiner Psychotherapie ins Spiel brachte: Die Frage, ob ich vielleicht eine leichte Form des Autismus hätte. Da meine Therapeutin überhaupt nichts dazu sagte und ich selbst das auch für zu groß hielt, tat ich diese Idee wieder beiseite.

5 Jahre Später, mit 40 also – fiel mir das wieder ein, und ich fing an, zu recherchieren was leichte Formen von Autismus überhaupt sein können. Über den Begriff „Asperger“ wusste ich nicht sehr viel.

Erst hier kam mir der Gedanke, dass ich in einigen Dingen nicht unbedingt von mir auf andere schließen kann. Besonders im Erleben von Alltäglichem, Spontanem, oder bei Umweltreizen. Erst nach und nach wurde mir Vieles bewusst und ganz langsam gelang es mir, die Ursachen für Rückzug und Kopfschmerzen zu erkennen und zu versuchen, sie zu reduzieren.

Vorher erlaubte ich mir den Gedanken, anders zu sein gar nicht. Ich versuchte oft extra die Sonnenbrille wegzulassen, um mich an das helle Licht im Sommer zu gewöhnen. Dies löste natürlich auch wieder Kopfschmerzen aus.

In familiären Situationen hatte ich seit jeher einen sehr hohen moralischen Anspruch an mich und wollte nicht so sein, wie ich es bei Anderen beobachtet hatte. Ich kam aber immer wieder an Grenzen, wenn ich erledigt war, Abends zum Beispiel. Oder Morgens, wenn dem Aufbruch einige Widrigkeiten entgegen standen. Dann wurde ich gestresst und das tat mir schon leid. Das artete in ganze gestresste Phasen über Wochen aus. Dass das mehr sein könnte, das erschloss sich mir erst jetzt. Dass ich mehr Ruhepausen brauchte, als andere und sehr Stress-empfindlich bin, dass erkannte ich auch erst jetzt. Diese mir zu nehmen, hatte ich mir nie erlaubt, da ich nicht als faul gelten wollte. Erst jetzt konnte ich auch anfangen, mit meiner „Faulheit“ Frieden zu schließen, oder sie nicht mehr als Faulheit zu betrachten, sondern als notwendige Ruhepause. Und auch das Gaming ist eher für mich eine Möglichkeit, abzuschalten. Abenteuer zu erleben, ohne zu sehr überfordert zu sein. Zusammen mit den Interessen Weltraum/Science-Fiction, die sich in Lesestoff, Filmen und Gaming auch deutlich wiederfinden bei mir.

Erst jetzt also, könnte ich solche Aussagen, wie „Mein Gehirn verarbeitet Reize anders“ oder „Ich kriege schnell eine Reizüberflutung“ tätigen. Erst jetzt wusste ich also, das Andere nicht so empfinden, und was ich hier die ganze Zeit erlebe, auch für Andere zu viel wäre. Ich muss wohl in meiner Kindheit irgendwann beschlossen haben, dass ich mich anpassen möchte. Habe den Gedanken nicht mehr zugelassen, dass ich anders bin, und bin mit Anlauf auf das Leben zugegangen. Viel von meinem Kompensationsverhalten wendete ich mit den Jahren wohl mehr und mehr unbewusst an, so dass ich meine Andersartigkeit gar nicht so sehr wahrnehmen konnte. Dennoch war da natürlich ganz tief unten immer die Angst, nicht gut genug, unzureichend zu sein. Es machte mich eher zu einem sozial unsicheren Menschen, der immer wieder vor seinen Lieben über sein Leben und dessen Anstrengungen klagte. Was mich selbst störte, denn so wollte ich eigentlich gar nicht sein. Ich halte mich auch für ausgesprochen Glücks-fähig. Bei Menschen, die mir Nahe sind, habe ich auch eine sichere Bindung, was dieser sozialen Unsicherheit zumindest scheinbar widerspricht.

Seit dem sich meine Vermutung über den Autismus auch offiziell bestätigt hat, haben sich meine Symptome verstärkt. Ich denke, das hängt damit zusammen, dass ich mich genauer beobachte und Situationen neu bewerte. Dass die Anspannung nachlässt, mich anpassen zu müssen. Ich hoffe, dass ich mein Leben so umgestalten kann, dass ich wieder zumindest so robust werde, wie vor der Diagnose.

Aber wie fängt man an? Sagt man jetzt alle Schwimmhallenbesuche ab, die die Tochter einem vorschlägt, mit großen Augen und zwinkernden Wimpern? Zieht man sich noch weiter (als vorher schon) von sozialen Kontakten zurück? Wie kann das Umfeld das verkraften? Isoliert es mich nicht noch mehr, der ich mich doch schon so isoliert fühle? Wie kann man eine Partnerin finden, die nicht darunter leidet, dass man z.B. so wenig spontan ist, und eingeschränkte Interessen hat? Die einen auch noch Interessant findet, vielleicht? Und wie soll man findbar sein, wenn man sich jetzt mehr zurückzieht als vorher? Das kann also nicht die Richtung sein, die Besserung bringt.

Veränderungen sind trotz dieser Erkenntnis ganz schön schwierig und funktionieren nicht auf einmal. Für den Anfang ist es schon mal schön, überhaupt zu erkennen, warum die Kopfschmerzen, die Erschöpfung und das starke Rückzugsbedürfnis entstehen. Wegen jahrzehntelanger Selbstzensur ist das manchmal nur allmählich zu erkennen. Ein zu helles Büro, eine zu laute Klimaanlage, oder Gespräche mit neuen Leuten.

Weniger Pflicht-Termine – ohne sich aber komplett überall raus zunehmen. Mehr Mut zu haben, kleine Helferlein wie Sonnenbrille und Noise Cancelling in vermeintlich unpassenden Situationen zu benutzen ist ein Anfang, schätze ich. Mehr ist jedoch notwendig. Wie kriegt man die eigenen Wünsche, die ja auch oft am Geld hängen, zusammen mit den eigenen Beschränkungen? Ich weiß jedenfalls, dass es mir bei allen Schwierigkeiten im Vergleich zu anderen Autisten gut geht. Als Autist einen Job zu haben, ist nicht selbstverständlich. Kinder zu haben wohl auch nicht. Dennoch ganz subjektiv sehne ich mich nach einer Beziehung, einem verständnisvollen Umfeld und die Möglichkeit, meine Ängste, für andere unzureichend zu sein, ablegen zu können. Denn erst wenn ich nicht mehr versuche, meine Unzulänglichkeiten zu überspielen, werde ich für andere ehrlicher, wahrnehmbarer, und vielleicht auch interessanter, schätze ich.

Ein neuer Blog

Ein neuer Blog, ganz neu mit eigenem Namen und eigener E-Mail-Adresse.

Freiheit.

Ein Neustart, weil sich in meinem Leben etwas geändert hat. Aber auch, weil ich meine Ansprüche an mich selbst herunterschrauben wollte. Perfektionismus verhinderte in den letzten Jahren, dass ich weiterschrieb. Ich habe mir schon vorgenommen einen Artikel darüber zu schreiben. Ganz unperfekt, mit Fehlern.

Dieser Blog wird wohl sehr subjektiv werden und ich bin mir nicht sicher, ob das überhaupt jemand lesen möchte. Eigentlich könnte ich alles in ein privates Textdokument schreiben. Aber dann, so fürchte ich, werde ich es nicht tun. Die potentielle Möglichkeit, das jemand dies hier liest erzeugt also eine gewisse Spannung, eine gewisse Daseinsberechtigung, die mich hoffentlich dran bleiben lässt.

Seit jeher habe ich ein paar Anpassungsprobleme, die ich mir lange nicht eingestanden habe. Diverse Schwierigkeiten resultierten und resultieren immer noch aus diesen Anpassungsproblemen. In den letzten beiden Jahren habe ich mich erstmalig in meinem Leben offen damit auseinandergesetzt. Am Ende kam eine offizielle Diagnose heraus: Asperger Autismus. Eigentlich ist es gar kein Ende, sondern ein Anfang. Der Anfang davon, wie ich mich jetzt verändere, wie ich mich umstelle. Wie ich diese Erkenntnis in mein Leben integriere, neue Wege für mich finde ohne mich hinter dieser Diagnose zu verstecken. Dies werde ich hier wohl zu einem großen Teil behandeln und verarbeiten.

Es kann also um ganz alltägliche Themen gehen, wie Aufräumen, Dating, Arbeit mit Reizüberflutung. Dazu meine Sicht der Lage natürlich. Das enthalte ich hier niemandem vor.

Es wird kein Autismus-Erklär-Blog werden. Ich kenne ja nur mich und kann nicht für andere sprechen. Es geht hier um meine eigenen, ganz subjektiven Erfahrungen, Erkenntnisse, und vor Allem: Fragen. In die Luft gestellt, ohne unbedingt Antworten zu erwarten.

Das Schöne an einem neuen Pseudonym ist, dass ich niemandem zu nahe treten, dass sich niemand einfach angesprochen fühlen kann. Nicht das ich vorhätte, andere vor den Kopf zu stoßen. Es ist nur eben ein wenig freier.

Vielleicht kommen hier auch ein paar Nerd-Themen-Beiträge dazu. Ich möchte in Sachen Themen nicht mehr unbedingt vorgeben, wie ein normaler Erwachsener zu sein, sondern mehr zu meinen Interessen stehen. Weltraum, Gaming, Weltraum-Gaming, Gaming im Weltraum. Aber natürlich auch Anderes. Ganz sicher bin ich mir nicht, ich sehe das Ganze als Prozess.

Wenn es der oder die ein oder Andere liest freut es mich, auch wenn ich noch nie reichweitenstark war. Hinterlasst gerne einen (konstruktiven) Kommentar.

Weltraumpoet